Die Kriegsschuldfrage
Dieses Kapitel dient der Nachbereitung der vorangegangen Vertiefung zum Kriegsverlauf 1914-1918.
Ausgangslage zur Debatte
Der katastrophale Krieg, der im Juli 1914 seinen Anfang nahm, endete mit der Niederlage der Mittelmächte. Für die Alliierten galten damals das Deutsche Reich sowie seine Verbündeten als hauptverantwortliche Auslöser für den Krieg. Man wollte die neu gegründete deutsche Weimarer Republik für alle Verluste und Schäden des Krieges bestrafen. Im Artikel 231 des Friedensvertrages von Versailles 1919 wurde die deutsche Kriegsschuld eindeutig festgehalten und musste von Deutschland als Teil des Friedens akzeptiert werden. Der Friedensvertrag sah außerdem hohe Reparationszahlungen an die siegreichen Großmächte vor. In großen Teilen der deutschen Gesellschaft etablierte sich im Kontrast zu diesen Vorwürfen allerdings ein anderes Bild vom verlorenen Krieg. In Deutschland glaubten viele Menschen an die deutsche Unschuld. Deutschland habe sich angeblich gegen Frankreich und Großbritannien verteidigen müssen. Obwohl Deutschland ein eindeutiger Angreifer im Krieg war und sich keineswegs nur verteidigte, glaubten viele Menschen aufgrund von Propaganda an eine alternative Version der Ereignisse um 1914. Ein bekannter Vertreter für staatliche Propaganda zur Kriegsschuldfrage war der ehemalige Offizier Bernhard Schwertfeger. Kritiker, welche sich in der Weimarer Republik öffentlich für eine aggressive Rolle des Deutschen Reiches aussprachen, wurden oftmals zensiert. Die vielen falschen Informationen zur deutschen Rolle am Kriegsbeginn 1914 und die sogenannte Dolchstoßlegende boten den Nationalsozialisten unter Adolf Hitler später einen optimalen Nährboden für die Radikalisierung der Weimarer Gesellschaft in den 1930er Jahren. Im internationalen Kontext wurden abseits von der deutschen Debatte, einzelne Zugeständnisse in Bezug auf die Kriegsschuld gemacht. So einigte man sich zunehmend auf die Erklärung, der Erste Weltkrieg sei durch verschiedene Zufälle herbeigeführt worden. Keine der beteiligten Nationen treffe eine wirkliche Schuld. Der damalige britische Minister Lloyd George war einer der bekanntesten Vertreter dieser Erläuterung. In den 1960er Jahren erhielt die Debatte, um die Kriegsschuld erneut erhöhte Aufmerksamkeit aus der historischen Forschung.
Artikel 231 des Friedensvertrages von Versailles von 1919
„Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Schäden und Verluste verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen Krieges erlitten haben.“
Meinungen zur Kriegsschuld
Fritz Fischer (deutscher Historiker, 1961)
„Bei der angespannten Weltlage des Jahres 1914, nicht zuletzt als Folge der deutschen Weltpolitik – die 1905, 1909 und 1911 bereits drei gefährliche Krisen ausgelöst hatte -, musste jeder lokale Krieg in Europa, an dem eine Großmacht unmittelbar beteiligt war, die Gefahr eines allgemeinen Kriegs unvermeidbar nahe heranrücken. Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges...“
Bernhard Schwertfeger (deutscher Offizier, 1929)
„Von diesem Tag ab haben sich die Dinge im Sinne der Verschärfung weiter entwickelt. Rüstete Rußland weiter, so konnte Deutschland bei seiner gefährlichen Lage inmitten Europas und unter der Gefahr eines ihm bevorstehenden Mehrfrontenkrieges dem nicht ruhig zusehen. (...) An dem Kriegswillen Rußlands sind alle Bemühungen der Diplomaten zuschanden geworden. Der Krieg war schon seit mehreren Tagen beschlossene Sache.„
Pierre Renouvin (französischer Historiker, 1964)
„Aufs Ganze gesehen hat die französische Politik in dieser Krise keine Entscheidung getroffen, die geeignet gewesen wäre, die Risiken des Konflikts zu erhöhen. Sie hat sich darauf beschränkt, angesichts der von Österreich-Ungarn und von Deutschland ergriffenen Initiativen Position zu beziehen. Der entscheidende Faktor dabei war das Schicksal des französisch-russischen Bündnisses. Bei einem Verzicht auf die Unterstützung des russischen Balkan-Interesses wäre Frankreich Gefahr gelaufen, diese Allianz zu zerstören. Aber indem es der russischen Politik eine totale Unterstützung gab, geriet es in Gefahr, in den Krieg hineingezogen zu werden (...).“
Igor W. Bestuschew (sowjetischer Historiker, 1966)
„Die Untersuchung der Tatsachen zeigt (…), dass die Politik aller Großmächte, einschließlich Russlands, objektiv zum Weltkrieg führte. Die Verantwortung für den Krieg tragen die herrschenden Kreise aller Großmächte (…) ungeachtet der Tatsache, dass die Regierungen Deutschlands und Österreichs, die den Krieg auslösten, eine größere Aktivität an den Tag legten, weil Deutschland auf einen Krieg besser vorbereitet war und weil sich die innere Krise Österreichs ständig verschärfte, und ungeachtet der weiteren Tatsache, dass die Entscheidung über den Zeitpunkt des Krieges letzten Endes praktisch von Deutschland (…) getroffen wurde...“
Quellen- und Literaturangaben
Grevelhörster, Ludger: Der Erste Weltkrieges und das Ende des Kaiserreiches. Geschichte und Wirkung. Münster 2004. Seite 136-145.
Krumeich, Gerd: Kriegsschuldfrage. In: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2014. Seite 661f.
Pöhlmann, Markus: Militärgeschichtsschreibung, amtliche. In: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2014. Seite 716f.
Schwabe, Klaus: Versailler Vertrag. In: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2014. Seite 945-947.
Thoss, Bruno: Kriegsschäden. In: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2014. Seite 658-661.